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Heinrich Böll: Wir Besenbinder (1948)
Die Gutmütigkeit unseres Mathematiklehrers war ebenso groß wie sein cholerischer Drang; er pflegte in die
Klasse zu stürzen - Hände in den Taschen -, seinen Zigarettenstummel in den Spucknapf links neben dem
Papierkorb zu rotzen, dann stürmte er den Katheder und rief meinen Namen im Zusammenhang mit
irgendeiner Frage, auf die ich nie eine Antwort wußte, wie immer sie auch heißen mochte , ...
Nachdem ich hilflos zu Ende gestammelt hatte, trat er auf mich zu, ganz langsam unter dem Gekicher der
ganzen Klasse, und knuffte meinen unzählige Male gemarterten Schädel mit brutaler Gutmütigkeit, wobei er
mehrmals murmelte: »Besenbinder, du, Besenbinder ...«
Es war gewissermaßen eine Zeremonie, vor der ich zitterte meine ganze Schulzeit lang, um so mehr, da
meine Kenntnisse in den Wissenschaften mit den steigenden Anforderungen nicht nur nicht zu wachsen,
sondern abzunehmen schienen. Aber wenn er mich gehörig geknufft hatte, ließ er mir meine Ruhe, ließ mich
meinen ziellosen Träumen, denn es war hoffnungslos, vollkommen hoffnungslos, mir Mathematik beibringen
zu wollen. Und ich schleppte meine Fünf all die Jahre hinter mir her wie ein Sträfling die schwere Kugel an
seinen Füßen.
Das Imponierende an ihm war, daß er nie ein Buch bei sich trug, kein Heft und nicht einmal einen Zettel,
sondern seine geheimen Künste aus den Ärmeln schüttelte und die ungeheuerlichsten Zeichnungen mit
einer fast seiltänzerischen Sicherheit an die Tafel warf. Nur seine Kreise gelangen ihm nie. Er war zu
ungeduldig. Er wickelte eine Schnur um ein ganzes Kreidestück, wählte den imaginären Mittelpunkt und
raste dann so schwungvoll mit der Kreide rund, daß sie zerbrach und jämmerlich kreischend, aber flink über
die Tafel hüpfte – Strich – Punkt, Punkt – Strich... und niemals trafen Anfangs- und Ausgangspunkt
zusammen, so daß ein gräßlich klaffendes Gebilde entstand, wahrlich ein unerkanntes Symbol für die
schmerzlich zerrissene Schöpfung. Und dieses Geräusch der kreischenden, knirschenden, oft auch
knatternden Kreide war eine weitere Qual für mein ohnehin gemartertes Hirn, und ich pflegte aus meinen
Träumen zu erwachen, aufzublicken, und kaum hatte er mich dann erspäht, als er zu mir stürzte, mich bei
den Ohren nahm und mir befahl, seine Kreise zu ziehen. Denn diese Kunst beherrschte ich nach einem
schlummernden, mir inwohnenden Gesetz fast fehlerlos. Wie köstlich war es doch, eine halbe Sekunde mit
der Kreide zu spielen. Es war wie ein kleiner Rausch, die Umwelt versank, und eine tiefe Freude erfüllte
mich, die alle Qual wettmachte ... aber auch aus dieser süßen Versunkenheit wurde ich geweckt durch sein
nun anerkennend brutales Reißen an meinen Haaren, und unter dem Gelächter der ganzen Klasse schlich
ich wie ein geprügelter Hund auf meinen Platz zurück, nun unfähig, mich wieder in das Reich der Träume zu
begeben, wartend in endloser Qual auf das Klingelzeichen...
Längst schon waren wir groß, längst waren meine Träume schmerzlicher geworden, längst schon musste er
»Sie« sagen, »Sie Besenbinder, Sie«, und es gab martervolle lange Monate, in denen keine Kreise zu
ziehen waren, sondern ich nur vergeblich zu versuchen verpflichtet war, das spröde Gebälk algebraischer
Brücken zu überklettern, und immer schleppte ich die Fünf hinter mir her, immer noch wurde die längst
gewohnte Zeremonie vollführt. Doch als wir uns dann freiwillig melden mußten, um Offiziere zu werden,
wurde eine schnelle Prüfung anberaumt, eine leichte Prüfung und doch eine Prüfung, und mein völlig
hilfloses Gesicht vor der amtlichen Strenge des Schulrates mochte den Lehrer außergewöhnlich milde
gestimmt haben, denn er sagte mir so viel und so geschickt vor, daß ich glatt bestand. Nachher aber, als die
Lehrer uns zum Abschied die Hände drückten, riet er mir, keinen Gebrauch von meinen mathematischen
Kenntnissen zu machen und mich keinesfalls einer technischen Truppe anzuschließen. »Infanterie«, flüsterte
er mir zu, »gehen Sie zur Infanterie, dorthin gehören alle Besenbinder ...«, und zum letzten Male knuffte er
andeutungsweise mit einer versteckten Zärtlichkeit meinen ohnehin gemarterten Schädel ...
Kaum zwei Monate später hockte ich auf dem Flugplatz von Odessa in tiefem Schlamm über meinem
Tornister und sah einem wirklichen Besenbinder zu, dem ersten, den ich je sah ...
Es war früh Winter geworden, und der Himmel über der nahen Stadt hing grau und trostlos zwischen den
Horizonten. Düstere hohe Gebäude waren zwischen Vorstadtgärten und schwarzen Zäunen sichtbar. Dort,
wo das Schwarze Meer sein mußte, war der Himmel noch dunkler, von einem fast bläulichen Schwarz, und
es schien fast, als komme die Dämmerung und der Abend von Osten.
Irgendwo im Hintergrund wurden die rollenden Ungeheuer vollgetankt an düsteren Schuppen, rollten