Konkurrenzformen des Passivs
Der passivische Aspekt kann nicht nur mit dem werden-Passiv ausgedrückt werden. Das Deutsche kennt auch andere, konkurrierende Formen:
Konstruktion Beispiel
bekommen + Partizip Perfekt Ich bekam ein Buch zugeschickt.
unpersönliche Reflexivkonstruktion Die Tür öffnet sich.
Funktionsverb + Verbalsubstantiv Der Vorschlag erhielt keine Unterstützung.
sich lassen + Infinitiv Die Fenster lassen sich öffnen.
sein + zu + Infinitiv Die Handschrift ist gut zu lesen.
bleiben + zu + Infinitiv Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.
es gibt + zu + Infinitiv Es gibt viel zu tun.
sein + Adjektiv auf -bar, -lich, -fähig Der Lärm war kaum erträglich.
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bekommen, erhalten, kriegen + Partizip Perfekt
Er bekam/erhielt/kriegte eine Armbanduhr geschenkt. = Ihm wurde eine Armbanduhr geschenkt.
Sie erhalten den Brief (von uns) zugeschickt. = Der Brief wird Ihnen (von uns) zugeschickt.
Ihr bekommt alles noch einmal erklärt. = Euch wird alles noch einmal erklärt.
Im Allgemeinen gehören diese Formen zur gesprochenen Umgangssprache. Die Formen mit bekommen und erhalten erscheinen manchmal auch in der Standardsprache.
Diese selten vorkommende Art des Passivs kann nur von Verben gebildet werden, die mit einem Dativ der Person und einem Akkusativ der Sache stehen.
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Reflexivkonstruktion mit unpersönlichem sich
Die Tür öffnet sich. = Die Tür wird geöffnet.
Es wird sich schon eine Lösung finden. = Es wird schon eine Lösung gefunden werden.
Die neue CD verkauft sich gut. = Die neue CD wird gut verkauft.
Diese Reflexivkonstruktion schließt eine Agensangabe aus:
Nicht: Die Tür öffnet sich vom Lehrer.
Wenn diese Reflexivkonstruktion durch ein Adverb wie gut, besser, schlecht usw. bestimmt wird, kann sie zusätzlich die Bedeutung des Modalverbs können haben:
Ein Filet isst sich besser klein geschnitten als an einem Stück. = Ein Filet kann besser klein geschnitten als an einem Stück gegessen werden.
Ein zu teures Buch verkauft sich schlecht. = Ein zu teures Buch kann schlecht verkauft werden.
Die Reflexivkonstruktion hat dann die Bedeutung von können, wenn sie sich zu einer sich-lassen-Konstruktion erweitern lässt.
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Funktionsverb + Verbalsubstantiv
Ein Funktionsverb ist ein Verb, das nur in Verbindung mit einem nominalen Ausdruck eine eigentliche Verbbedeutung hat. Ein solcher nominaler Ausdruck enthält in der Regel ein Verbalsubstantiv (ein Nomen, das eine Verbhandlung ausdrückt). Mit Funktionsverben wie kommen, gehen, finden, erhalten, geraten u. a. können passivische Verbkonstruktionen umschrieben werden:
Diese Methode kam zum ersten Mal zur Anwendung. = Diese Methode wurde zum ersten Mal angewendet.
Mein Wunsch geht endlich in Erfüllung. = Mein Wunsch wird endlich erfüllt.
Diese Kunstform geriet in Vergessenheit. = Diese Kunstform wurde vergessen.
Weitere Beispiele:
zum Ausdruck kommen
= augedrückt werden
zur Entfaltung kommen = entfaltet werden
Unterstützung erhalten = unterstützt werden
Anerkennung finden = anerkannt werden
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sich lassen + Infinitiv
Die Konstruktion sich lassen + Infinitiv drückt neben dem Passiv auch den modalen Aspekt von können aus:
Die Fenster lassen sich öffnen. = Die Fenster können geöffnet werden.
Der Stoff lässt sich gut waschen. = Der Stoff kann gut gewaschen werden.
Der Umweltskandal ließ sich nicht verbergen. = Der Umweltskandal konnte nicht verborgen werden.
Diese Konstruktion sollte nicht mit einer anderen sich-lassen-Konstruktion verwechselt werden, bei der das Subjekt immer belebt (Mensch, selten Tier) ist und lassen die Bedeutung von zulassen/veranlassen hat:
Victoria ließ sich nicht unter Druck setzen (= Victoria ließ nicht zu, dass...)
Der Mann lässt sich die Haare schneiden (= Der Mann veranlasst, dass...)
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sein + zu + Infinitiv
Der Antrag ist (vom Antragsteller) jährlich zu erneuern. = Der Antrag muss (vom Antragsteller) jährlich erneuert werden.
Die Inschrift ist noch zu lesen. = Die Inschrift kann noch gelesen werden.
Die Fenster sind zu öffnen. = Die Fenster müssen/können geöffnet werden.
Die Rechnung ist an der Kasse zu begleichen. = Die Rechnung muss/kann an der Kasse beglichen werden.
Diese Konstruktion drückt neben dem Passiv auch den modalen Aspekt von können oder müssen aus. Ob müssen oder können gemeint ist, hängt vom Kontext ab.
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bleiben + zu + Infinitiv
Diese Konstruktion kommt nur selten vor. Sie drückt neben dem Passiv auch den modalen Aspekt von müssen aus:
Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten. = Die weitere Entwicklung muss abgewartet werden.
Die hohen Schuldenlasten bleiben zu beachten. = Die hohen Schuldenlasten müssen beachtet werden.
Es bleibt zu bezweifeln, ob er Recht hat. = Es muss bezweifelt werden, ob er Recht hat.
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es gibt + zu + Infinitiv
Diese Konstruktion drückt neben dem Passiv auch den modalen Aspekt von müssen oder können aus. Ob müssen oder können gemeint ist, hängt vom Kontext ab.
Es gibt hier nichts zu tun. = Es muss/kann hier nichts getan werden.
Dabei gibt es einiges zu bedenken. = Dabei muss einiges bedacht werden.
Nach einer Reise gibt es viele Abenteuer zu erzählen. = Nach einer Reise können viele Abenteuer erzählt werden.
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sein + Adjektiv auf -bar, -lich, -fähig
Es können auch mit Hilfe der Wortbildung passivische Konstruktionen gebildet werden: sein wir mit einem Adjektiv kombiniert, das mit –lich, –bar oder –fähig vom Verb (oder vom Verbalsubstantiv) abgeleitet ist. Die Konstruktion drückt neben dem Passiv auch den modalen Aspekt von können aus:
Der Lärm ist kaum erträglich. = Der Lärm kann kaum ertragen werden.
Die Gegensätze waren unüberbrückbar. = Die Gegensätze konnten nicht überbrückt werden.
Die Bildqualität ist verbesserungsfähig. = Die Bildqualität kann verbessert werden.
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