Sehr geehrter Herr Dreymann,
am Anfng meines Briefes sollte ich mich eigentlich vorstellen, aber ich denke, ich werde es später machen. Sie kennen mich nicht, ich aber kenne Sie sehr gut und möchte Ihnen danken. Sie werden warscheinlich erstaunt sein, warum eine unbekannte Person Ihnen schreibt und sich fragen wofür sie dankbar ist?
In letzter Zeit habe ich Ihr Buch gelesen und es hat einen großen Eindruck auf mich gemacht. Wie ich schon geschrieben habe, haben wir uns nie kennen gelernt. Doch ich muss sagen, Sie haben meine Einstellung den Menschen und der Welt gegenüber verändert. Ich war ein pflichtbewusster Staatsdiener, dessen Leben durch beflissene Diensterfüllung geprägt war. Meine Arbeit bedeutete für mich den Sinn meiner Existenz. Ich wurde wie eine Maschine betrachtet, die verpflichtet war, die Aufträge und Anordnungen seiner Vorgesetzten auszuführen. Ich stelle fest, ich war kein guter Mensch… Mein Leben hat sich verändert, als ich den Auftrag bekommen habe, einen bekannten Schriftsteller abzuhören… Ja, ich bin HGWXX/7.
Am Anfang meiner Überwachung vertraten wir gegensätzliche Interessen und waren ganz anders. Sie sind ein begabter Schriftsteller, der seine Arbeit liebt. Im Gegensatz zu mir sind Sie menschlich und großzügig. Und ich? Ich habe kein Privatleben, keine Familie…
Je länger ich zugehört und protokoliert habe, desto schneller bröckelte mein kalter Fels aus Obrigkeitshörigkeit, rigoroser Prinzipientreue und dem Glauben an die Unfehlbarkeit meines Regimes. Mehr und mehr schien ich Gefallen am Künstlerleben zu finden. Ich begann sogar Liebesgedichte von Brecht zu lesen. Dies alles schien mir eine Welt zu eröffnen, die ich, der Erfahrene, Routinierte, vorher angeblich nicht gekannt habe. Vollends umgedreht wurde ich, beim Anhören einer Sonate, die von einem guten Menschen wie Ihnen gespielt wurde. Die Klänge des Stückes berürhten mich und begannen mir zu helfen. Ich ließ Ihre Schreibmaschine verschwinden und habe die Abhörprotokolle gefälscht. Das war der Schluss meiner Karriere bei der Stasi, aber ich bereue nichts. Ihre Widmung ist sehr wichtig für mich, sie zeigt, dass ich gute eine Entscheidung getroffen habe und stolz auf mich sein kann.
Ich danke Ihnen für alles.